Der Zauber des Gewöhnlichen oder Warum die Tüten auf den Zehenspitzen stehen

Heiderose Langer, 2009

„Der sicherste – und rascheste – Weg zum Staunen ist der: unerschrocken immer den gleichen Gegenstand fest im Auge behalten. Auf einmal erscheint uns dann dieser Gegenstand – wunderbar – so, als hätten wir ihn niemals gesehen.“ (Cesare Pavese)

 

 

„Soll ich dir das Schönste zeigen, was ich je gefilmt habe?“, fragt Ricky Fitts seine Freundin Jane in dem Oscar gekrönten Film „American Beauty“ und verzaubert sie mit dem Video von einer im Wind tanzenden weißen Plastiktüte. Weder das Geräusch des Windes noch das Rascheln der Tüte ist zu hören. Es herrscht Stille an diesem Ort im Nirgendwo. Diese kurze filmische Sequenz wird bis heute als unvergessliches Bild eines befreiten Lebens, der intensiven Erfahrung des Augenblicks und der Schönheit des Flüchtigen gesehen. Entscheidend ist, dass die Gedanken und Gefühle, die beim Beobachten der tanzenden Plastiktüte geweckt werden, den gewöhnlichen Wegwerfartikel in ein Objekt der ästhetischen Wahrnehmung verwandeln. Banales geht in Komplexes, Zufälliges in Bedeutsames, Reales in Fiktives über.

 

Schauplatz dieser wundersamen Transformation einer Plastiktüte ist der öffentliche Raum, wohingegen Sabine Christmann ihre Tüten und anderen Verpackungsmaterialien in einem Raum präsentiert, der neutral weiß gehalten ist und sich nicht eindeutig verorten lässt. Er ist artifiziell, nahezu strukturlos und überschaubar. Eine Bühne der Möglichkeiten. Man könnte sich vorstellen, dass sich ihre Protagonisten, zumeist in einem Ensemble von Gleichgesinnten auftretend, als Grenzgänger zwischen Alltag und Kunst, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Realität und Fiktion verstehen und nicht wirklich eingefangen und festgelegt werden wollen, weder mit Worten noch mit dem Pinsel.

 

Wie eine Choreografin weist sie den vor ihr ausgewählten und arrangierten Tüten in dem als Malvorlage dienenden Stilleben einen Platz zu, legt individuelle Positionen und Beziehungen fest. Die Tüten stehen auf einer Glasplatte vor einer Wand, stabilisiert mit Drähten, dem wechselnden Spiel von Licht und Schatten ausgesetzt und immer von der Angst durchdrungen, ein plötzlicher Windstoß könnte ihren gemeinsamen Auftritt jäh zerstören. Der Eindruck dieses Sich-Präsentierens schwankt zwischen fester, selbstbewusster Standhaftigkeit und locker-leichten, tänzerischen Bewegungen. Transformation und Stillstehen sind gleichermaßen bestimmende Handlungsweisen der Akteure. Fast scheint es so, als bräuchte dieses reale Arrangement aufgrund seiner leichten Zerstörbarkeit das Medium Malerei, um sich in einem fiktiven Raum den Traum von Zeitlosigkeit, Erhabenheit und Schönheit erfüllen zu können.

 

Sabine Christmann gibt den von „Natur“ aus schlaffen und leeren Hüllen einen Körper und versetzt sie in Momente konzentrierten Innehaltens wie auch spielerischer Interaktion. „Die aufgebauten Gegenstände erlebe ich als Stellvertreter für Personen mit eigener Vergangenheit, die Beziehungen zueinander eingehen. Zueinanderrücken, Sich-Anlehnen, Vordrängen, Sich-Entziehen, Enge oder Geborgenheit innerhalb einer Gruppe, Einsamkeit in einem Raum, Ausgeliefert-Sein auf der Bühne, all das können die Situationen der realen Stilleben für mich ausdrücken“, so Sabine Christmann. Viele der Plastik- und Papiertüten verhalten sich so, als könnten sie sich vor lauter Übermut kaum im Zaum halten. Kokett steht die eine auf ihren Zehenspitzen, die andere bläht sich auf, als wolle sie gleich davon fliegen. Leichtigkeit, Eleganz und Grazie bringen sie in ihren Bewegungen zum Ausdruck. Ambivalent sind manche “Körperhaltungen“ zu deuten. Wird ein liebevolles Aneinanderkuscheln oder ein schüchternes Sich-Verstecken inszeniert? Und dann es gilt zu bedenken, dass die Tüte mit ihrem potentiellen Inhalt auch eine unsichtbare Ebene besitzt.

 

Wochenlang ist das aufgebaute Stilleben das Gegenüber von Sabine Christmann, fungiert als Partner eines intensiven Austausches. Im Fortgang des lange währenden Malprozesses verlagert sich ihr Interesse von einem Abbilden des realen Stillebens auf die eigene subjektive Wahrnehmung und die Realität sowie Eigengesetzlichkeit des Bildes. Und in dem Maße wie sie die Welt hinter den Dingen erkundet, lässt sie immer mehr zu, dass die malerische Wiedergabe der Alltagsobjekte gelenkt wird von einer persönlichen Innenschau, von Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen. Beeinflusst von ihrer Tagesverfassung und den beobachteten, von der Tageszeit und dem Wetter abhängigen Lichtverhältnissen, ändert sich der Blick auf die Dinge, ihre Farbe, Form und Umgebung. Somit wird auch das Phänomen Zeit zu einem wichtigen Gestaltungselement.

 

Grundlegend für ihr Verständnis von Malerei als Prozess sind nicht nur äußere Veränderungen und die eigene Selbsterkundung sondern auch die Erforschung der künstlerischen Mittel, die Wahl der Farben, ihre Nuancen und Lichthaltigkeit, Linie und Fläche in ihrer Eigenschaft Raum und Bewegung zu suggerieren, die Veränderbarkeit des Pinselduktus, die Strukturierung der Bildfläche. Zunehmend schafft Sabine Christmann Distanz zum realen Stilleben und verlagert ihre künstlerische Arbeit in den Bereich der Abstraktion.

 

Sie rückt in ihren Bildern die eigentlich wenig erbaulichen Alltagsobjekte auf eine ästhetische Betrachtungsebene und stattet die zunächst für diese Aufgabe kaum geeignet erscheinenden Kandidaten mit sinnlicher Ausstrahlung und Erhabenheit aus. Im Gegensatz zum fixierten Dingarrangement kommt auf diese Weise eine Freiheit der Gestaltung und des Ausdrucks ins Spiel. Möglichkeitsräume der Intuition und Phantasie tun sich beim Malen auf. Die Funktions- und Bedeutungsebene der Dinge tritt in den Hintergrund und macht einer poetischen Überhöhung Platz, die den Dingen Flügel verleiht. Einen Windhauch, der zwischen den Objekten leise hindurchzieht, meint man ebenso zu spüren wie ein leises Rascheln der Tüten. Ein imaginäres, die einzelnen Protagonisten verbindendes Band des Zusammenhalts verdichtet sich zu einem Vorstellungsbild von Einheit. „Die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre“, schreibt Hermann Hesse, „ist keine langweilige, keine graue, gedankliche, theoretische Einheit. Sie ist ja das Leben selbst voll Spiel, voll Schmerz, voll Gelächter“.

 

In den Bühneninszenierungen von Sabine Christmann erzählen die Dinge Geschichten vom Leben. Die Tüten zeigen Spuren des Gebrauchs und Alters wie Falten und Knicke, verweisen durch Worte, Texte, Logos und Bildmotive, die aufgedruckt sind, auf ihre weltweite Herkunft und Verwendung. Dadurch outen sie sich als weit gereiste, edle oder banale Designprodukte, die sich gemeinsam präsentieren und auf die bunte Vielfalt der grafischen Gestaltungsmöglichkeiten eines globalen Werbeträgers hinweisen. Auch Bezüge zur Literatur sind auf ihnen zu entdecken. So kommt zum Beispiel die deutsche Romantik ins Spiel und damit Sehnsucht, Magie und Gefühl. „Eichendorff“ ist auf einer Tüte (o.T. Bohnenbild) zu lesen und Worte aus seinem Gedicht „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“. Lautet das Zauberwort ITO-YA, wie auf einer anderen Tüte steht? Und was macht in dieser Versammlung von illustren Tragetüten die bodenständige Bohnentüte? Sie sagt: „Ich bin schön, blumig und grün. Durch die Konzentration auf mich beim Malen bin ich überscharf geworden. Ich lasse die Realität hinter mir und verwandele mich in einen Märchen- oder Zaubergarten“.

 

Ist die moderne Welt durch exaktes Wissen und perfekte Technik entzaubert worden, so spürt der Mensch doch das unbestimmte Bedürfnis, verzaubert werden zu wollen. Verschiedene Illusionsproduzenten bieten sich an: das Theater, die Poesie, die Malerei. Was im Theater gespielt wird, möchte den Anschein des Wirklichen hervorrufen und erweckt ihn auch in der Vorstellung des Zuschauers. Doch dieser wird bald aus seiner Versunkenheit in das Spiel der Fiktion herausgerissen. Es wird ihm bewusst, dass er Zuschauer in einem Theater gewesen ist und er wendet sich ernüchtert der prosaischen Wirklichkeit zu. Mit Blick auf die Malerei von Sabine Christmann bedeutet dies, dass der Betrachter seine Wahrnehmung auf die Verwendung der künstlerischen Mittel, Farbe, Form, Linie und ihre Möglichkeiten der Bildgenerierung richtet und er spürt, dass auch das Mitspielen des Zufalles zugelassen wurde.

 

Selbst wenn das Konkrete in ihrem Werk zum Greifen nahe ist, z. B. die Erdbeermilchtüte, die koreanische Milchpackung, die Bostontüte oder der Green Tea Beutel, so handelt es sich zunächst um das im Bild zitierte Alltagsobjekt. Der vollzogene Transfer ist im Bild gegenwärtig und wird mitgesehen. Beim Malen werden diese Repräsentanten der Alltagskultur zunehmend zu Stellvertretern des Gedanken- und Gefühlskosmoses der Künstlerin in einem von ihr bestimmten Zeitabschnitt, der sich in den Bildern widerspiegelt. Somit ist das Ding nicht mehr das, welches wir glauben zu sehen und zu kennen, sondern Speicher gelebten Lebens und Verkörperung einer individuellen Weltsicht.

 

Die Dinge sieht Sabine Christmann nicht als statische und durch ihre Alltagsfunktion festgelegte, eindeutig definierbaren Gegenstände. Sie betrachtet die Alltagsdinge viel mehr als Untersuchungsobjekte, geprägt von der subjektiven Sicht des Produzenten und des Betrachters. Es gibt nicht das einzig gültige, objektive Abbild eines Dinges, sondern eine Vielzahl von möglichen Bildern. Vielleicht platziert sie deshalb in ihrer Bildwelt jedes Alltagsding zusammen mit seinem Spiegelbild. Spiegelungen sind als Ausweitung der Dinge zu begreifen und eröffnen neue Blickwinkel. In der Verdoppelung tritt die Wirklichkeit unscharf, fragmentarisch und flüchtig auf und der Betrachter ahnt, dass die Realität nie in dieser Klarheit, Perfektion und Ordnung erscheint, wie sie es auf den Bühnenbildern von Sabine Christmann vorgibt zu sein. Damit ist das Spiegelbild womöglich der Wahrheit näher als das sich spiegelnde Objekt?

 

Zu beobachten ist, dass die Spiegelbilder die Tüten auf den Bildern sanft zum Schweben bringen, sie in einen Raum des Geistigen, Geheimnisvollen und Visionären heben. Es ist, als träfen sich an dieser Schwelle des Überganges vom Gegenstand zu seiner Spiegelung Gegensätze wie Rationalität und Irrationalität, Wirklichkeit und Phantasie, Bewusstes und Unbewusstes zu einem harmonischen Zusammenspiel. Dass diese romantische Sehnsucht nach einer Versöhnung der Gegensätze vielleicht nur von kurzer Dauer sein könnte, ist zu vermuten, denn die stimmige Gesamtwirkung der Bilder mit ihrer Ruhe, atmosphärischen Qualität und Schönheit bleibt latent gefährdet. Auffallend transparent sind viele Objekte, labil die Dingarrangements, flüchtig ihre „körperliche“ Anwesenheit, brüchige die Oberflächen. Momente des Vergänglichen scheinen bei der Betrachtung der gemalten Produkte auf. Man ahnt ihre kurzlebige Existenz und begrenzte Nutzbarkeit.

 

Es ist wie ein Sprung aus der Realität des Lebens auf eine Bühne, auf der immer wieder Facetten des Lebens thematisiert werden und gleichzeitig wird beim Zuschauen das eigene Tun, dieses Pendeln zwischen Realität und Fiktion, reflektiert: In Sabine Christmanns Bildwelt lösen sich die Grenzen des Gewohnten auf und Annäherungen werden zugelassen, zum Beispiel zwischen Wissen und Sehnsucht oder Wachsein und Träumen. Banale Dinge regen zum Staunen an, versprühen einen Zauber des Gewöhnlichen und regen ebenso zum Nachdenken über die Aufgaben und Bedingungen von Malerei an. Sabine Christmann erweitert in ihrer Malerei den vertrauten Blick auf das, was wir Wirklichkeit nennen, und stellt dabei die Polarität von subjektiv und objektiv, real und fiktiv in Frage. Die Tüten beginnen leise zu vibrieren, so als würden sie gleich einen Blick hinter ihre Oberfläche freigeben und ihr Wesen enthüllen, das zu definieren die Aufgabe des Betrachters ist.

 

Heiderose Langer

 

 

Verwendete Literatur

Ausstellungskatalog Vollkommen Gewöhnlich, Eine Ausstellung des Kunstfonds, Kunstverein Freiburg, 1998

 

Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt/New York, 2. Auflage, 2001

Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M 1984

Hermann Hesse, Lektüre für Minuten, Frankfurt/M 1977, S. 135